Herzmilch by Klemm Gertraud

Herzmilch by Klemm Gertraud

Autor:Klemm, Gertraud [Klemm, Gertraud]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-05-22T16:00:00+00:00


IV.

23.

Auf einer Bank sitzen, die Beine parallel, über mir der glattgestrichene Parkhimmel, mit Baum gerahmt. Winterluft, aus der ich Sauerstoff herausschmecke und in mein Blut leite, transportiere, Wärme erzeuge, Energie umwandle, damit Abfälle von Nährstoffen trenne, ausatme. Das alles bin ich, ein Wunder, arrangiert auf dem sauber drapierten Knochengerüst. Bevor ich das Biologiestudium begonnen hatte, war jede Selbstverständlichkeit selbstverständlich. Während des Studiums wurde alles, was früher selbstverständlich war, rätselhaft und wunderbar. Jetzt bin ich akademisch entzaubert. Alles ist Physik und Chemie. Dr. Engels findet es gut, dass ich meine Körperlichkeit unter diesem sachlichen Blickwinkel betrachte. All das Konzentrieren auf den Körper, sagt Dr. Engels, wird Ihnen helfen, sich von Ihrer Angst abzugrenzen. Ich sehe meinen Finger eine Grenze in den Sand zeichnen.

Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Der beschwichtigende Gesichtsausdruck. Das Lächeln versickert, die Lippen werden schlaff. Der entspannte Gesichtsausdruck. Die Mundwinkel schnalzen nach oben. Das Gesicht des glücklichen Mädchens. So kann man herumgehen und seine Umgebung beeinflussen. Das verleiht Macht. Ich übe Gesichter, um den Leuten, die sich meinetwegen quälen, das Leben zu erleichtern.

Eine alte Frau geht vorbei, sie schlurft im Kies, meidet die Schneeflecken, die zu Fallen gefroren sind. Kindergeschrei aus der anderen Ecke des Parks, wo die Schule ist, ein Brei ohne Worte. Ich kann alles hören, was sie denken, was sie morgen schreien werden, nächstes Jahr, in dreihundert Jahren. Es ist immer dasselbe.

Ich verschließe das Gehör, öffne das Jausensäckchen und breite den Inhalt sorgfältig vor mir aus. Ein Käsekornspitz, eine Orange, ein Stück roter Paprika. Was es alles braucht, um so einen Körper warm zu halten, in Bewegung zu versetzen, ihn sauber zu halten, ihn zu entleeren, zu enthaaren und enthornen, ihn zu betten und wieder wach zu machen. Dieses viele Wissen. Teile davon kann ich abzweigen, um meiner Arbeit als Gutachterin für den Gesetzgeber nachzugehen. Vierzig Wochenstunden, 10 Stunden Überstundenpauschale, 5 Wochen Urlaub, 14 Monatsgehälter. Jetzt bin ich erwachsen und berufstätig und zwischen 11:30 und 13:30 ist die Mittagspause einzuplanen, bitte nicht über 20 Minuten.

Ich esse die Nahrungsmittel in alphabetischer Reihenfolge, oder der Größe nach, oder von links nach rechts, oder ich ordne sie nach Farben. Ich beiße gleichgroße Stücke ab, schließe die Lippen, kaue rhythmisch, jeden Bissen dreißigmal.

Ordnung ist eine Strategie, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, sagt Dr. Engels. Ich bringe die Paprika wieder durcheinander. Ich werde ihm nicht vom neuen Traum erzählen. Ich sehe aus dem Fenster zu, wie sich der Heldenplatz füllt, bis er aus allen Nähten platzt. Transparente, mit Meerfarben bemalt, schwingen, es ist Mai. Sie rufen jetzt, lauter und eine kleine Frau betritt die Bühne und wirft die Hände in die Höhe. Ein gellendes Jubeln zerschneidet die Luft. Etwas ist anders, der Klang gläsern und ins Ohr schneidend. Ein Heer aus Frauen.

Jesus, sagt Dr. Engels. Ich stelle meine Beine parallel. Ob er vergessen hat, dass ich es zurückgenommen habe? Das cognacfarbene Leder meines Stuhls riecht vertraut, nach der Arbeitstasche meines Vaters, ihrem dunklen Inneren, nach dem Griff ins Sediment aus Tabak, Bröseln, Druckerschwärze. Mein Gesäß ist auf Kühle gebettet, es dauert ein bisschen, bis meine Körperwärme in das Leder vordringt.



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